Engellieder
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß.
Und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da habe ich ihm seinen Himmel gegeben,-
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt.
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten,-
denn er muß meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten-
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
Hat auch mein Engel keine Pflichten mehr,
seit ihn mein strenger Tag vertrieb,
oft senkt er sehnend sein Gesicht her
und hat die Himmel nicht mehr lieb.
Er möchte wieder aus armen Tagen
über die Wälder rauschendem Ragen
meine blassen Gebete tragen
in die Heimat der Cherubim...
Rainer Maria Rilke